Bruxelles – Havanna
Bruxelles dort – Bruselas hier
Noch eine Stadt im Stillstand der Zeit
noch eine Stadt, die zu überleben scheint in versteinerter Zeit
noch eine dieser Erscheinungen
halluzinös
Brüssel ist grossartig
Grau
feucht
und oft
zerstört
aber stolz
Noch ein durchtränktes Havanna, nass, ertrunken zehntausend Kilometer weiter oben
da im Nordosten
Man ist kaum mal trocken in Havanna
und immer feucht in Brüssel
die ätzende belgische Feuchtigkeit
klebt nicht
sie verkrustet
frostig --- tief
im Innern der Knochen ---
beharrliche innere Feuchtigkeit
ist porös ------
ein Knochen
--- hoffnungslos porös.
Der Geruch des Nieselregens
des Regens
des Gewitters
hartnäckiger Duft
Mischung aus Gewürzen
Dörrobst und Türkenbrot
getrockneter Stockfisch
Erde, feuchter Stein
Gras und Schlamm
Pommes frîtes und Biere
Fisch und Miesmuscheln
Duft von kleinen Dingen
von gedrückter Stimmung
von drohender Depression,
die jedoch nicht aufkommt
nie wirklich
oder wenn man sich manchmal einer kleinen Traurigkeit hingibt ---------
gleichzeitig einem Orval
recht früh
nach morgendlichen Einkäufen auf dem Markt von Saint-Gilles
manchmal braucht man zwei oder drei
nur um ein wenig zu vergessen
nur um seine Ansammlung von Komplexen und absurden Ansprüchen zu vergessen -----
Widersprüchliches Brüssel
Brüssel mit seinen Gerüchen einer Stadt des Südens
Brüssel erdrückt
unter Kilometern grauer Dächer
Kilometern aufgebrochenen Himmels -----
Gerüche, die nie entweichen ---
----------- sehr wenige Lücken in den Wolken zum entfliehen
Seltsame Schwermut
Trübsinn von Emigranten
Brüssel hat eine slawische Seele
und ich kann sie singen hören unter dem Regen
in den Cafés
in „la Unión“, „los Emigrantes“, „el Peñon“
während ich gehe,
meide
durchquere
zertrete ich
Berge von aufgehäuften Abfallsäcken in den Strassen ---
Allwöchentliche Performance
Blau-schwarzes Happening
mit gelber Schnur
Dauer, Geruch und Konsistenzen wechseln
wobei immer die gleichen Künstler mitwirken ----------
Mein Weg wird merkwürdigerweise nie beschwerlich
keine Kampfbahn ------
Den gelben Schnüren folgen
den dunkelblauen Bündeln ------
Das intime Leben jeden Seins entweihen
hinter dem undurchsichtigen Plastik
sich die Hast des einen
die Einsiedelei des andern
die Essgewohnheit eines dritten ausmalen
aber vor allem sehen wie ringsherum die Menge resigniert
wie sie beschliessen, immer wieder den Atem anzuhalten,
auf den Strassen zu gehen
neben den Trottoirs
auf Strassen, die sich zweimal die Woche verwandeln in unglaublich gigantischen Müll,
der erstickt
es fertig bringen damit zu leben...
zu leben mit den endlosen
häufigen Streiks
auch die „Ingenieure der Stadtreinigung“ stellen ihre Forderungen
und rufen dies selbstverständlich in Erinnerung
zwei- oder dreimal jährlich ------
Trotz alledem habe ich nie in diesen Strassen den Tod gerochen
niemals
nie Gerüche wie diese hier, die meine Sinne betäuben
manchmal
Geruch von verdorbenem Fleisch
von vergessenen Toten
resistenten Pilzen ------
------------ Salz und Staub
Während ich zwischen diesen surrealistischen Skulpturen wandle
auf der Rue de l'Hôtel des Monnaies
kann ich mich nicht wehren gegen eine Faszination, die das Schaufenster eines
ehemaligen Ladens auf mich ausübt ---------
Was man gegenwärtig sehen kann (was sichtbar ist durch den Staub hindurch) auf der
andern Seite der Scheibe ist jenseits jeglicher Realität, wie vieles hier ------
Ein Alter lebt hier
tausend Jahre Leben --------------------------------------------------------
zwischen dem Alten und der Strasse
Zwischen dem Alten und der Strasse
hinter dem Schaufenster
haufenweise Käfige
einige leer
die anderen voll
manchmal mit Vögeln
manchmal lebendigen ------
Von hinten überschaut der Greis dieses aufgestapelte Kunstwerk mit dem fixen Blick des
letzten Opfers des Tierpräparators von nebenan
der alte Körper ist nicht zu unterscheiden von der Düsternis und den Holzmöbeln
Alle und alles dort hat die gleiche Farbe
ein Grau zwischen schwarz und grün
zuweilen das Rot einer Sekunde
stroboskopisches Rot
von hunderten überall aufgehängten Glühbirnchen
schwache
kaputte
ein ungleichmässiges Blinzeln
frenetisch ------------
im Leeren
einige morbide Porträts
schwarze Plakate
satanische Bilder aufgehängt an den Wänden
geschmückt mit Girlanden
Büscheln
Federn ------
In einer Ecke eine Prozession von Kerzen,
die sich vereinigen, um einen Totenschädel zu beleuchten
und seine Gedanken zu erhellen ...
Wieviele Male habe ich mir vorgenommen, diesen Ort wenigstens von aussen zu filmen?
Nie habe ich dazu den Mut gehabt ---------
Ich weiss nicht, ob der Alte noch lebt
er scheint so unsterblich in seiner Szenerie ...
dermassen unmenschlich ---
---- manchmal erinnert er mich an André Delvaux, einer der diese Stadt so porträtieren
konnte wie sie wirklich ist, jenseits von schwachsinnigen Clichés ----
Dieser Alte ist eine wahrhaftige Huldigung an Delvaux, falls Sie ihn kennen...
Saint-Gilles / Metro
Saint-Gilles
spanisches Quartier
türkisches
im wesentlichen jedoch portugiesisches
Quartier der eingesalzten Stockfische, die frische Luft schnappen in den Auslagen
------- oft Bäckereien
Metro von Brüssel...
unfassbar
unwirklich
leere Bahnsteige
leere Wagen
leere Sitze
leere Blicke -------------------------------------
Wie in den meisten Metros der Welt
hütet man sich
schützt man sich
die Augen senkend
sich umdrehend mit Kopf und Körper
wenn das jugoslawische Lied beginnt
das kurdische oder rumänische
wenn die ersten Noten ertönen
-------------------------- die Polinnen...
Die Metro erstreckt sich über einen Grossteil der Stadt
unterirdische Wüste
erstaunliche Architektur von Treppen, statischen
rollenden
metallische Abgründe -----------------------------
Dekoriert in den Siebzigerjahren unter gewaltsamen Drogen
Orange, sakrosanktes Braun, Rot, Gold, Wandskulpturen
Verzerrungen ---------
Haltestelle Saint-Gillis
unverständliche Texte an den Wänden
verwischt
Erklärung der Menschenrechte
--------------------------- in kleinen Stücken
Immense eisige Labyrinthe
kaltes Licht
Metall
Chrom und Steingut
Wandkacheln
gigantisches ödes Spital
expressionistische Irrenanstalt
leere Klinik, die jemand unbedingt schrecklich sauber halten will
und neu --------
30 Jahre
---------schon vergangen
hin und wieder geht ein Irrer vorbei und tut so als warte er auf irgendetwas
allein
das Gesicht verspannt
verspannt vom Warten ------------
im Hintergrund eine leichte Musik
ununterbrochen
Supermarktmusik
fast unmerklich
man sagt sie bewirke Entspannung der Nerven
und im Allgemeinen stimmt das
die Verrückten verhalten sich ruhiger
warten nur
wie wenn sie einig wären
zivilisiert ------------------
Kilometer von Schienen
Kilometer von Zügen
Strassen aus Eisen
in oder ausser Betrieb
Villa Turn & Taxis
ehemalig Haltestelle für Güter
riesige Halle
Schienen, die unversehens aufhören
nicht mehr befahrbar --------------------
führen nirgendwo hin
Zur Zeit Künstlerateliers
morgen
ein Shopping-center für den Volkskonsum
Brüssel
Die Schienen, Schienen, Schienen, die --------
überall
wiederum Magritte und Delvaux
elektrische Landschaft ohne Ende
Himmel zum sich darauf fallen lassen
wie durch ein Wunder von Kilometern von Kabeln gestützt
die Quartiere und Menschen verknüpfen
Dächer aus hängenden Geweben
luftiger Traum ---------------------
Sophie Lemoine (aus dem Spanischen: Markus Buser)